Wie ich einmal arbeitstechnisch zum bundeswehrfinanzierten Kinderquäler wurdeOberflächlich gesehen hätte ich es mir damals ganz leicht machen können mit dieser vom Staat auferlegten Arbeit, die im konservativen Kreisen ja gerne Ersatzdienst genannt wird. Einfach ab ins bundeswehrfreie Westberlin, wie so viele andere vor mir auch. Zwei nicht unwesentliche Gründe hinderten mich an dieser Entscheidung. Zum einen die Tatsache, das ich noch keine Ahnung hatte, was ich stattdessen, sagen wir mal aus damaliger Perspektive- langfristig zu machen gedachte und zum zweiten fast 450 Kilometer Distanz zum heimatlichen Westfalen. Selbst der in Frage kommende Studienort Münster war mit 50km schon recht weit entfernt. Osnabrück war zwar deutlich näher, stand aber nun überhaupt nicht zur Diskussion, weil es in Niedersachsen lag. Das war mental mindestens ebenso weit entfernt wie die exotische Halbstadt Berlin. Also Zivildienst, und dies keinesfalls als Ersatz. Tatsächlich bemühte ich mich in Eigeninitiative um eine Stelle in einem Heim für behinderte und verhaltensgestörte Kinder und Jugendliche. Bevor die Kids bundesweit verhaltensgestört wurden, waren sie ja noch schwer erziehbar, also bis in die späten 60er hinein. Dann wurden sie gestört, später waren sie nur noch auffällig. Wahrscheinlich werden sie in einigen Jahren wie in Amerika dann anders talentiert. Oder ob der latenten USA-Kritik in der letzten Zeit dann doch vielleicht parallel sozialisiert oder so was. Naja, wie auch immer, die schwerst erziehbar auffällig gestört parallel anders talentierten hießen auch damals schon Autisten. Davon hab ich einige kennengelernt und - das gebe ich gerne zu - diese Begegnungen haben Spuren hinterlassen. Die Wohngruppe, in der ich dann fast zwei Jahre arbeitete, bestand aus neun Kindern. Ich war speziell für Bernd dort eingesetzt, ein 15jähriger autoaggressiver Autist, der sich an allen Ecken und Kanten, die ein möbliertes Zimmer so zu bieten hat, den Kopf einschlagen wollte. Aus diesem Grund trug er Tag und Nacht einen Eishockeyhelm. Wenn mal eine Ecke unerreicht blieb, schlug Bernd sich auch gerne mit der Faust auf die Stirn, wo ohnehin schon seit Wochen ein respektables Loch vorhanden war, das er sich bei einem Besuch der elterlichen Wohnung in Bremen an einem Heizkörper eingeschlagen hatte. Ich hatte damals noch nie etwas von Autismus gehört und es dauerte ja auch noch ein paar Jährchen bis der erste unter Zuhilfenahme der mütterlichen Hand ein beeindruckendes Buch auf den Markt brachte. Der Titel ging irgendwie in Richtung "Gefangen im Ich" oder so. Bernd war Galaxien davon entfernt irgendwann ein Buch zu veröffentlichen, er sprach so gut wie gar nicht, er wiederholte nur Sätze, die man an ihn richtete und in der Art, wie er sie betonte konnte man ein Ja oder Nein heraushören. Den größten Teil des Tages saß er mit angezogenen Beinen in einem Sessel, die Arme hinter dem Rücken hielt er dort die eine mit der anderen Hand fest, damit diese nicht wieder auf der Stirn aufschlug. Bernd empfand wohl kaum Lust dabei sich selbst zu verletzen, aber wenn man ihn länger kannte, war man in der Lage, unterschiedlichen Arten der Autoaggression zu unterscheiden. Am schlimmsten waren die anfallartigen, die ohne jede Vorwarnung aus ihm herauszubrechen schienen und immer das größte Verletzungsrisiko bargen. Unvermittelt sprang er bei solchen Gelegenheiten aus dem Sessel um auf die Tischkante loszurennen oder er lies sich gleich auf den Boden fallen und bearbeitete diesen mit der Stirn. Im übrigen hasste Bernd jede überflüssige Körperliche Bewegung. Essen war seine große Leidenschaft, aber auch immer mit viel Streß verbunden, weil er dann aus dem Sessel aufstehen und am Tisch sitzen musste. Tische sind mörderisch was ihre Ecken und Kanten anbelangt. Gelegentlich tauchte in der Gruppe ein Kinder- und Jugendpsychiater auf, der sich in seiner Freizeit um Bernd kümmerte. Er hatte es in monatelanger Therapie geschafft, dass der Junge zumindest nicht mehr 24 Stunden ans Bett fixiert war. Der festangestellte Psychologe im Hause wusste anscheinend soviel über Autismus wie ich über Astrophysik, was in logischerweise dazu nötigte die Anwesenheit eines echten Experten in unserer Wohngruppe heftig zu kritisieren, und so überraschte er uns eines Tages mit einem von ihm entwickelten Therapiekonzept, das aus ausgedehnten Spaziergängen bestehen sollte. Ein ca. 3km Marsch durch die norddeutsche Pampas bis zu einer Autobahnbrücke und zurück Natürlich wusste der Mann das Bernd sowohl ungewohnte Umgebung als auch Bewegung hasste, genau daran bestand der Ansatz. Der Eishockyhelm wurde ihm abgenommen und jedesmal wenn der Junge Andeutungen machte sich auf die Knie fallen zu lassen oder die Hand zur Stirn zu führen, wurde er zwangsweise zum Laufen verpflichtet. Natürlich tat er das nicht freiwillig und musste deshalb von der Psychoniete und seinem willigen Vollstrecker, also mir gezogen und gezehrt werden. Damit hatte sich der Mann nun zwei Feinde in der Gruppe gemacht. Bernd und ich mochten nicht viel gemeinsam haben, auch wenn wir nur drei Jahre auseinander waren, aber die Freude an Bewegungsmangel war uns beiden heilig. Jeden morgen um 10.00 tauchte Dr. Ahnungslos also in der Gruppe auf, und sobald Bernd ihn sah setze ein lautes Wehklagen ein. Ich durfte leider nur innerlich aufheulen. Nach knappen zwei Wochen, ein Erfolg dieser Therapie war nicht im Ansatz zu erkennen, lies sich Dr. Klein Pawlow dann immer öfter verleugnen und legte mir auf die Spaziergänge alleine durchzuführen. Leider bin ich aufgrund welcher Umstände auch immer kaum mit großem Widerspruchsgeist gesegnet und trottete wie geheißen los. Ich ließ ihm aber den Eishockey-Helm auf dem Kopf und bin immer nur mit ihm gerannt, wenn wir uns in Sichtweite des Heimes befanden. Bernd hat mir das natürlich weder gedankt noch übel genommen, zumindest nicht erkennbar. Dr. wie-bin ich bloß-zu-diesem-titel-gekommen tauchte
dann in der Gruppe kaum noch auf und fragte auch nicht mehr nach den Spaziergängen.
Ein kleiner Rest von Menschenkenntnis muss ihn wohl zu der seltenen Einsicht
geführt haben, sich einen völligen Blödsinn ausgedacht
zu haben. Und wenige Wochen später ein zweiter Geistesblitz, die
Kündigung, um in irgendeinem Zentrum als Ehe und Beziehungstherapeut
zu arbeiten. Wahrscheinlich hat er den meisten zu Powerwalking geraten
um den Kopf frei zu kriegen. Ich kümmerte mich wieder darum Bernd
den Tag verletzungsfrei überstehen zu helfen, ohne das wir beiden
uns allzu sehr dabei anstrengen mussten. Was bleibt ist die Erinnerung
uns beide für einen Idioten krumm gemacht zu haben.
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